Friedrichshainer Geschichtsverein Hans Kohlhase e. V.

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Erinnerungslandschaft

Im Netz der Kohärenz

Einer der verlockendsten Reize der Vergangenheit besteht zweifellos in der Annahme, die Geschichte würde genau auf jenen Gesellschaftszustand zulaufen, in dem ihre Betrachter gerade leben. So war das unter Kaiser Wilhelm II., unter Erich Honecker und so ist das unter den grünen Bürgermeistern von Friedrichshain-Kreuzberg, zweier etwa 300 Jahre alte Stadtteile beiderseits der Spree. Die einst selbständigen Einzelbezirke, die in ihrer Geschichte nicht nur von einem Fluss, sondern in ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, vor allem aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Zugehörigkeit zu zwei gegensätzlichen Weltsystemen getrennt waren, wurden im Jahr 2001 nicht zufällig zu einem Bezirk zwangsvereinigt. Seitdem wurde Friedrichshain in seiner Bevölkerungsstruktur, der Mentalität und seinem politischen Flair Kreuzberg immer ähnlicher gemacht. Die seit 1978/1990 zunehmende Multikulturalität in Friedrichshain stellt dagegen eine echte Bereicherung und geradezu ein Erfordernis für diesen Stadtteil dar. Der Gesamtbezirk wird seit acht Jahren von den Grünen, assistiert von den Sozialdemokraten aus Linken und SPD, verwaltet und es wurde höchste Zeit, dass die seit 1990 total veränderte Gegenwart Friedrichshains durch einen legitimatorischen Rückblick in die Vergangenheit gerechtfertigt wird. Die Botschaft ist klar: Was in den vergangenen beiden Jahrzehnten hier passierte, ist der Endzweck der Geschichte, ist alternativlos.

Aus diesem Grund beschloss die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg am 29. Februar 2012 auf Initiative der Grünen und der Piraten ein „kohärentes Konzept“ zur Friedrichshainer Geschichte mit dem Ziel einer „Neukonzeptionierung“ des „historischen Gedächtnisses“. Was hat den Parteien in der Friedrichshainer Geschichtslandschaft gefehlt, damit diese neu erfunden werden musste? Seit 1990 gab es zwischen Stralau und Strausberger Platz etwa zwei Dutzend verschiedene Initiativen, die engagiert und jede auf ihre Weise das Feld der Vergangenheit beackerten und durchaus vorzeigbare Ergebnisse aufweisen konnten. In der Vereinskultur, in Publikationen, mit Stadtführungen und mit Ausstellungen existiert hier eine breit gefächerte, auch widersprüchliche Geschichtsszene.

Die angebliche „Neukonzeptionierung“ ist eigentlich eine Neuordnung mit dem Ziel, unter dem Dach der Vielfalt eine Zentrale zu etablieren, die Beschlüsse über einheitliche Publikationen fasst, deutsch-historische Jahrestage festlegt, Struktur- und Finanzfragen entscheidet und ein Heimatmuseum oder ein ähnliches Leitkulturinstitut in Friedrichshain installiert, ohne für das Bezirksamt weitere Kosten zu verursachen, also außerhalb der kommunalen Verantwortung. Und so kam es auch, das Outsourcen der Friedrichshainer Geschichte. Für die angebliche Erarbeitung und Durchsetzung eines „kohärenten Konzeptes“, dem sich die bestehenden Initiativen anzuschließen haben, wurde eigens ein „Forum Erinnerungslandschaft Friedrichshain“ gegründet. SPD, Grüne und evangelische Kirche besitzen in diesem „Netzwerk“ durch ihre dominanten Positionen im Kreuzbergmuseum, im Jugend(widerstands)museum der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft e.V., im Kulturraum Zwinglikirche e.V. und im Paul-Singer-Verein von vornherein eine maßgebliche finanzielle, logistische und thematische Entscheidungsmacht. Andererseits sind gerade diese vier Hauptinstitutionen, die über Hunderttausende Euro verfügen und bezirkliche sowie kirchliche Immobilien nutzen können, kaum auf äußere Unterstützung angewiesen, um ihre „Neukonzeptionierung“ zu realisieren. Gewissermaßen aus dem Stehgreif hat dieses „Forum“ inzwischen eine von der Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann abgesegnete „Kleine Friedrichshaingeschichte“ durch Martin Düspohl und Dirk Moldt herausgegeben. Es geht demnach nicht um die Erforschung und Darstellung der Friedrichshainer Geschichte, sondern eher darum, die vielen kleinen und unterschiedlichen Friedrichshainer Geschichtsinitiativen, die oftmals von staatlichen Finanzierungen abhängig sind, mit diesem Netzwerk zu ködern, um sie in den Genuss eines Einheitsgeschichtsbildes kommen zu lassen. Die freien Fische im Wasser der Vergangenheit sind den Parteien nicht geheuer. Sie sind jetzt bis auf wenige Ausnahmen im Netz(werk) der Kohärenz gefangen und schwimmen dort zwischen Parteilinie und Eigenständigkeit herum. CDU und Linke befinden sich ebenfalls im Kescher. Auf der Website dieses Forums wird entgegen den Tatsachen auch der Friedrichshainer Geschichtsverein Hans Kohlhase e.V. als ein Akteur aufgeführt. Der war und ist aber kein Teil dieses Gremiums und ist an dessen Beratungen, Entscheidungen und Aktivitäten nicht beteiligt.

Ein touristischer Reiseführer durch die Geschichte

Mit der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ hat das Forum Erinnerungslandschaft seine Sichtweise dargelegt. Sie enthält zahlreiche lesenswerte Kapitel, die einen Einblick in das frühere Leben, in Zusammenhänge der Sozial-, Verkehrs-, Bau-, Industrie-, und Politikgeschichte geben, insbesondere in den Abschnitten über den Schlesischen Bahnhof, über das Frauengefängnis Barnimstraße, über den Nazi Horst Wessel, über oppositionelle Jugendgruppen in der DDR oder über die Spreegrenze nach 1961, über das Postamt O 17, über Stralau und den Volkspark Friedrichshain. Die Publikation ist mit Karten, Fotos und Literaturangaben ausgestattet. Und obwohl ausgewiesene Experten daran mitarbeiteten, wird schon im Vorwort von Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann bestritten, dass dies „eine regionalgeschichtliche Untersuchung“ etwa wie die Friedrichshaingeschichte „Der Berliner Osten“ aus dem Jahr 1930 sei. Sollte es sich etwa um einen touristischen Reiseführer durch das Szeneviertel der Bionade-Bourgeoisie um die Simon-Dach-Straße handeln?

Bar 25 in der Holzmarktstraße
Bar 25 in der Holzmarktstraße. Der einstige Techno-Club im Outfit eines Western-Saloons wurde zum Symbol der kommerzialisierten Klubbranche.

Konzeptionell auffällig ist zumindest, dass die Geschichte darin oft nicht in ihrer eigenen Entwicklung hergeleitet, sondern die Gegenwart in die Vergangenheit hinein interpretiert wird. So hat es ein „Barnimviertel“ in der Friedrichshainer Geschichte nicht gegeben, ebenso wenig ein „Samariterviertel“, das erst seit 1992 aufgrund kirchlicher Impulse so genannt wird. Eine Charakterisierung des Osthafenviertels als Upper East Side liegt historisch völlig daneben (mont klamott 4. Jg. Nr. 38, Glaube, Schicksal, Heimat - die Erfindung der Geschichte) und dient lediglich durchsichtigen Werbezwecken für Investoren. Die Upper East Side als vornehmster New Yorker District hat mit der Geschichte Friedrichshains nichts zu tun, ist allerdings eine bezeichnende Zukunftsvision für den fremdbestimmten Spreeraum. Sie wird zum Symbol für den brutalen Stadtumbau des einstigen Arbeiter- und Industrieviertels am Osthafen zu einer Büro- und Vergnügungslandschaft für Mercedes-Benz, Universal, die O2-Arena, Modelabels und die komplett kommerzialisierte Klubszene einer westlich-elitären Tourismusindustrie an der Spree. Dabei sind die Friedrichshainer nur Zuschauer, denn es handelt sich ausschließlich um westdeutsche oder westeuropäische oder Übersee-Eigentümer.

Die „Kleine Friedrichshaingeschichte“ versucht gar nicht erst, die historische Topografie jener Gegend zu ergründen. Sie wirft statt dessen den Mantel der Gegenwart, die heutige Kiezstruktur, über die Vergangenheit.

Unter dem Stichwort „Milieu“ wird die Entwicklung eines der markantesten Berliner Arbeiterquartiere neben dem Wedding und Neukölln beschrieben, ohne die Grundzüge und die Ursachen für jene Entwicklungen zu benennen, die doch erst die mentalen Besonderheiten jener Kernregion des Berliner Ostens ausmachten. Das Stralauer Viertel und später Friedrichshain waren der lokale Ausdruck einer starken und zugleich widersprüchlichen internationalen sozialrevolutionären Entwicklung, die das gesamte 20. Jahrhundert in Atem hielt und die 1990 von der Bühne der Weltgeschichte abtrat. In der „Stadt der zwei Herzen“ galt der proletarische Berliner Osten als das Antibürgerliche schlechthin und bezog aus seiner historischen Eigenheit sowohl Stigma als auch Stolz, der seinen meist ärmeren Bewohnern ein sicheres Erkennungsmerkmal gegenüber dem übrigen Berlin gab. Nicht erst der kalte Krieg seit 1946/1948 machte Berlin zu einer geteilten Stadt. Die soziale Spaltung zog sich schon dreihundert Jahre durch seine Geschichte, als vor 1700 die Westorientierung der Stadtentwicklung begann und sich im Osten die ungeliebten Vorstädte mit ihren Branntweinkneipen, Scheunen, Schweineställen und Handwerkerkaten zwischen den Äckern ausbreiteten. Es wäre gut, daran zu erinnern, in einer Zeit, in der sich Friedrichshain durch seine Kreuzberger Vereinnahmung aus dieser langen historischen Konstellation scheinbar endgültig verabschiedet, um zum Vergnügungsviertel der ganzen Stadt herabzusinken. Darüber schweigt die „Kleine Friedrichshaingeschichte“.

Das trifft auch auf die Anfänge der Arbeiterbewegung zu. Wann die Sozialdemokratie hier in der höchsten ihrer Berliner Hochburgen aller Zeiten mit Wahlergebnissen bis zu 82,4 % zur Welt kam, erfährt man nicht. Selbst die SPD (Christoph Kamissek) kann in ihrer Friedrichshainer Parteigeschichte nur schemenhaft darüber mutmaßen. Dass es schon 1865 unter dem unmittelbaren Einfluss von Karl Marx war, möchte man bei den heutigen Reformisten nicht mehr wissen. Die schon damals gespaltenen Ursprünge der sozialdemokratischen Organisation im alten Stralauer Viertel und ihre einflussreiche, aber auch differenzierte Entwicklung vor 1914 bleiben im Dunkeln.

Das ständige Hin und Her zwischen links und rechts und damit das Vortäuschen einer revolutionären Politik durch die SPD ließe sich gut an Paul Mielitz nachweisen. 1914 war er SPD-Mitglied, dann 1919 linker Metallarbeiter-Gewerkschaftsfunktionär, schließlich wurde er als Mitglied der linksradikalen Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) und nicht der SPD zum ersten Friedrichshainer Bürgermeister gewählt. 1921 kehrte er wieder zur SPD zurück und blieb bis 1933 Bürgermeister, obwohl die KPD längst die stärkste Partei im Bezirk war. Ein schönes Beispiel des sozialdemokratischen Demokratieverständnisses. Dann trat er zeitgemäß 1946 aus freien Stücken in die SED ein, begann seinen zweiten Linksruck und wurde sogar Landrat in der Provinz Brandenburg. Die „Kleine Friedrichshaingeschichte“ spricht von Zwangsvereinigung der KPD und SPD, obwohl in Friedrichshain die demokratischen und freiwilligen Tendenzen den Zwang bei Weitem überwogen. 1949 hat Paul Mielitz erneut sein Herz für die SPD entdeckt und ist nach Westberlin gegangen. Eine „geradlinige“ sozialdemokratische Karriere, die in der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ etwas unvollständig wiedergegeben wird.

Berlin ist bekanntlich die atheistischste Stadt Deutschlands. Den Herausgebern sind die uralten Traditionen der Jugendweihe, das Bekenntnis zur Konfessionslosigkeit, die Abkehr von der Kirche so wichtig, dass sogar neun kostbare Zeilen dafür geopfert werden. Aber Dietlinde Peters irrt, wenn sie in den (Über-) Redekünsten des atheistischen Sozialisten Adolph Hoffmann die Motive für die großen Kirchenaustrittsbewegungen seit 1900 erblickt. Die Gründe lagen doch nicht in der Missionierung der Arbeiter zur Gottlosigkeit. Dies ist nur eine spiegelverkehrte kirchliche Sicht, denn die Ursachen für die Abkehr von der Religion lagen vorrangig in der Kirche selbst. So ist es heute nach jedem Kirchenskandal und so war es schon vor dem ersten Weltkrieg. Nur das damals nicht intellektuell-philosophische, ethische oder finanzielle Argumente den Ausschlag gaben, sondern vor allem existenzielle, moralische und politische. Die Kirche war eine feste geistige Säule des kaiserlich-kapitalistischen Systems, sie begründete Kriege, soziale Erniedrigungen, Hierarchien und Ausbeutung als gottgewollt und das trieb die Arbeiter in Scharen aus ihr heraus in die geistige Freiheit.

Diese Traditionen sind dem „Forum Erinnerungslandschaft Friedrichshain“, das unter kirchlichem Einfluss steht, nicht genehm und es wäre sicher unsittlich, wenn Kirchenleute die Geschichte der „Heiden“ schreiben sollten. Das Freidenkerhaus, das noch heute in Friedrichshain vorhanden ist, wird daher einfach ignoriert. Es steht auch nicht unter Denkmalschutz wie die Kirchen.

Die Rolle der Kommunisten wird ausschließlich ideologisch oder machtpolitisch dargestellt, in der Märzrevolution 1848 werden sie noch übergangen. Warum sie 1918 hier so stark waren, lag nach der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ nur an der Faszination der Rätemacht, an den Revolutionskämpfen 1918/1919 und somit an der in der Geschichte angeblich immer wiederkehrenden Aufmüpfigkeit der Friedrichshainer. Eine seltsame psychohistorische Argumentation. Dass die Sozialdemokratie 1919 die „Sozialisierung“ (Enteignung) der Schwerindustrie versprach, aber dann wieder einmal ihr Versprechen gebrochen hat, wird schlicht vergessen. Immerhin handelte es sich hierbei um eine Programm-Aussage des gültigen Erfurter SPD-Programms von 1891, in dem die „Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln ... in gesellschaftliches Eigentum“ gefordert wurde.

Aber auch den Zusammenbruch der roten Hochburg 1933, die sich relativ schnell an das faschistische Regime anpasste, vermag die „Kleine Friedrichshaingeschichte“ nicht zu vermitteln. Grotesk wird es, die Erschießung des Nazis Horst Wessel durch den kommunistischen RFB-Mann Ali Höhler, als „Verbrechen im Rotlichtmilieu“ auszugeben. An anderer Stelle wird von Ralph-Jürgen Lischke von „einem in den politischen Auseinandersetzungen mit Kommunisten 1930 getöteten SA-Sturmführer“ berichtet. Der Straßenterror der frühen 1930er Jahre wurde von fast allen politischen Richtungen und zuerst vom Staat ausgeübt. Am 29. Januar 1928 erschoss ein sozialdemokratischer Polizist den Jungkommunisten Herbert Neumann in der Kneipe Gubener Straße 5, dem Jugendwiderstandsmuseum ist das allerdings keine Zeile wert. Am 1. Mai 1929 fielen dem Polizeiterror des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel mehr als 30 Arbeiter in Berlin zum Opfer, darunter auch ein Sozialdemokrat. Tatsächlich nutzte dieser bürgerkriegsähnliche Zustand mit seiner politischen Erpressung allein den Faschisten, die den Terror perfektionierten und skrupellos einsetzten.

Die DDR wird fast durchweg im einseitigen antikommunistischen Klischee einer Diktatur wahrgenommen und damit die alte Schwarz-Weiß-Malerei aus den Zeiten des kalten Krieges wiederbelebt. Warum wird beispielsweise neben dem Durchgangsheim in Stralau, in dem Jugendliche in den 1950er bis 1980er Jahren misshandelt und in ihrer Menschenwürde verletzt wurden, nicht über das wenige hundert Meter entfernte Kinderheim berichtet, in dem Kleinkinder 1961 aufgenommen und betreut wurden, deren in den Westen geflohene Eltern sie in ihren Wohnungen zurückgelassen hatten? Eine Gedenktafel soll auf Initiative der CDU nur am ersten Heim angebracht werden, typisch für die Dominanz einseitiger rechts-nationalistischer Geschichtsdarstellung.

Warum erfährt man neben den Grenzflüchtlingen und den beklagenswerten Grenztoten nichts über die mehr als eintausend Rückkehrer aus dem Westen, die in den 1960er Jahren in Friedrichshain lebten, meist aus den ärmsten sozialen Schichten stammend?

Als „Revolution“ wird dagegen von der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ die kapitalistische Reconquista vom 9. November 1989 bezeichnet, die zum Industriesterben, zur Vermögensrückgabe, zu Privatisierungen, Mietsteigerung, Verdrängung und relativen Armut der Einheimischen führte. Für die Einheitsgewinnler unter den Deutschen, die ihre Immobilien im Osten zurückerhielten oder für einen Großteil der ostdeutschen Intellektuellen, Mittelständler und Arbeiter mag die Rückkehr des Kapitalismus 1990 ein Fortschritt gewesen sein. Aus der Sicht der weltweit Ausgebeuteten und der sozialen Bewegungen war sie es jedenfalls nicht.

Eine der größten historischen Verzerrungen in der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ findet sich in der neuesten Geschichte der Jahre nach 1990, die viele Friedrichshainer, die heute keine mehr sind, weil sie wegziehen mussten, selbst miterlebten. Das Herumreden über soziale Stadterneuerungen, Miet- und Belegungsbindungen, Mietobergrenzen, Betroffenenvertretungen, Quartiersmanagement und das von Kneipenlärm, Hundekot und Rücksichtslosigkeit erfüllte „lebendige Kiezleben“ kann nicht über die Zerstörung der sozialhistorischen Wurzeln des alten Friedrichshains hinwegtäuschen. Aufwertungsphantasien und kreative Durchsetzungsstrategien seit den 1990ern stellen einen totalen Bruch mit der gesamten bisherigen Friedrichshainer Geschichte und nicht nur mit der DDR dar. Um 2000 wurde Friedrichshain zum Durchlauferhitzer für den subkulturellen und Shopping-Mainstream, die beide oftmals ineinander übergehen und deren Protagonisten selbst nicht so genau wissen, in welchem alternativen Abenteuer kleinbürgerlicher Saturiertheit sie sich gerade befinden. Ihr Lieblingskind, die Klub- und Location-Szene, ist seit den 1990er Jahren das Lockmittel, um diesen neuen selbstbestimmten Menschenschlag unter 30 hier anzusiedeln. In der hedonistischen Jugendkultur offenbart sich der Zeitgeist einer Gesellschaft, die anstelle des sozialen Miteinanders und des solidarischen Kampfes die Perfektion ihrer entsozialisierten Facebook-Kommunikation, individuelle Coolness und die Arroganz einer elitär-abgeschotteten Kulturszene gesetzt hat.

Zugleich lebt in Friedrichshain weiterhin eine sozial-mentale Schicht, die sich diesem Lebenssinn entzieht und Antikapitalismus, Antiparlamentarismus und Anarchismus auf ihre Fahne geschrieben hat.

Geschichtsschreibung wird zum Claqueur der Politik, wenn sie unkritisch die Sichtweisen der Parteien, der politisch, wirtschaftlich und religiös Herrschenden übernimmt. Brav und treu eilt das Forum Erinnerungslandschaft Friedrichshain, obwohl es dazu einige interne Bedenken gab, von einem historischen Propaganda-Jubiläum zum nächsten und bedient dabei die heiligen nationalistischen Grundmythen der Deutschen, den Mauerbau und den Mauerfall, den 17. Juni 1953, die deutsche Opfergemeinschaft während des Bombenkrieges, die Glorifizierung der Sozialdemokratie und missbraucht die Revolutionäre auf dem Friedhof der Märzgefallenen der Revolution 1848 als angebliche Vorkämpfer der heutigen Demokratie.

Wie kann es sein, dass beim Forum Erinnerungslandschaft und in dessen „Kleiner Friedrichshaingeschichte“ das entscheidende historische Datum Friedrichshains im 20. Jahrhundert, die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee in den Tagen vom 23. April bis 2. Mai 1945, kaum eine Rolle spielt und nur beiläufig bei der Erwähnung zerstörter Gebäude oder der Vollständigkeit halber genannt wird?

Das Forum Erinnerungslandschaft Friedrichshain folgt einem anderen historischen Kalender mit anderen Inhalten. Ihm geht es trotz antifaschistischer Stolpersteine und der Erinnerung an die vietnamesischen Vertragsarbeiter in der DDR vor allem um einen deutschen Nostalgie- und Gedenkkult, der seine historische Begründung aus den Tagen des kalten Krieges und einer durchgängigen DDR-Feindschaft ableitet.

Der Friedrichshainer Geschichtsverein Hans Kohlhase gibt seit acht Jahren einen anderen „Friedrichshainer Geschichtskalender“ heraus, der sich diesem aufgezwungenen Vergangenheitsritual verweigert. Er macht dagegen keinen Bogen um die Kriegspolitik der SPD von 1914 und 2014, um die verhängnisvolle Rolle der evangelischen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert in Friedrichshain, um die heuchlerische Migrantenpolitik der Grünen und ihre spaltende Rolle auf dem Oranienplatz 2014 sowie um die inhaltslose Unkenntlichkeit der „Linken“ in der Berliner Gegenwart.

Insgesamt kann man den Grünen, der SPD, der Linken und der CDU aber dennoch gratulieren, denn der ideologische Gleichklang ist geglückt. Das „Forum Erinnerungslandschaft Friedrichshain“ ist auf dem besten Wege zu einer Friedrichshainer Einheitsgeschichte der Eliten, mit der die heute hier Lebenden zufrieden sein können, sofern sie eine existenzsichernde Arbeit haben, einer großen Religionsgemeinschaft angehören oder regelmäßig wählen gehen.

Lampedusa gehört zur Friedrichshainer Geschichte

Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Wenn die Löwen die Geschichte erzählen, wird diese ganz anders sein als die Geschichte der Jäger.“ Geschichte ist die im Heute gelandete Vergangenheit abzüglich des „Vergessenen“ und des Unauffindbaren. Das Schreddern von Akten, die lückenhafte Quellenüberlieferungen, selektive Erinnerungen von anonymisierten Zeitzeugen, Nutzungsbeschränkungen und -Verbote in Archiven, das Beschreiben oder Verschweigen von Themen und Personen sind jedoch nicht Naturerscheinungen, Zufälle oder Irrtümer. Es sind von Interessen geschaffene Siebe im Gedächtnis einer Gesellschaft. In ihnen zeigt sich, dass die Konflikte der Gegenwart in das Vergangene projiziert und dort weitergeführt werden. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, resümierten Karl Marx, der 1837 in Stralow lebte, und Friedrich Engels 1848 im Kommunistischen Manifest. Anscheinend hat sich die Geschichte der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte nicht an deren Analyse gehalten. Die von ihnen beschriebene, den Geschichtsprozess durchziehende Klassenstruktur ist in Friedrichshain nicht mehr erkennbar. Gegensätze zwischen Mietern und Vermietern, Lohnabhängigen und Unternehmern, Wählern und Politikern, Migranten und Deutschen sind immer irgendwie lösbar. Inzwischen ist in Friedrichshain die Unversöhnlichkeit des Klassenkampfes einer bunten Mischung von Sozialpartnerschaft, Bürgerinitiativen, Betroffenenvertretungen, kirchlicher Seelsorge, einer zahnlosen Parlaments-Linken und Volksentscheiden gewichen. Sogar die Polizei bietet bei Demonstrationen Antikonfliktteams an, um mit den antikapitalistischen Demonstranten ins vertrauensvolle Gespräch zu kommen. Offenbar ist mit dem strahlenden Zeitalter des Lobbyismus die ewige gesellschaftliche Harmonie angebrochen. Auf diesem Flecken der Erde ist fast jener Zustand erreicht, den die Christen und Buddhisten, die Sozialdemokraten und vor allem die Grünen, aber auch die Kapitalisten, also alle Staatstreuen, so sehnlichst erträumten. Wenn da nicht die Kriege in Syrien, Afghanistan, Südsudan, Zentralafrika, Mali, Somalia, die Konflikte in Irak, Lybien, der Ukraine, Palästina, Ägypten, das Lohndumping der sieben Millionen Zeitarbeiter in Deutschland, die Hartz 4-Repression gegen drei Millionen Menschen, die Umweltzerstörung von Fukushima, der über dem Grenzwert liegende Feinstaub in der Frankfurter Allee, die schmelzenden Polkappen, die Antibiotika im Schweinefleisch, das Dioxin in Bioprodukten sowie die halbe Million Menschen in Nordafrika wären, die als Nächste das rettende Ufer Europas, das sie nicht haben will, zu erreichen hoffen.

Ankunft der Flüchtlinge vom Oranienplatz im Hostel Georghof
Ankunft der Flüchtlinge vom Oranienplatz im Hostel Georghof in der Gürtelstraße am 9. April 2014.

Wenn da nicht Lampedusa mit seinen 350 am 3. Oktober 2013 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen, das zur Zufriedenheit der Berliner beseitigte Camp auf dem Oranienplatz und das Hostel Georghof in der Gürtelstraße 39 in Friedrichshain wären. Dort leben jetzt die hin- und hergeschobenen Lampedusa-Flüchtlinge vom Oranienplatz in der Hoffnung, dass ihnen die Abschiebung erspart bleibt. Eine Hoffnung, die von den deutschen Gesetzen verboten ist, von Gesetzen, die auch die Friedrichshainer gemacht haben.

Von der westlichen Zivilisation hervorgerufene koloniale Ausbeutung, Armut, Kriege, ökologische Verbrechen sowie die soziale Existenzbedrohung zeigen in Friedrichshain nicht ihre zerstörerische Seite. Man könnte annehmen, sie seien hier nicht entstanden, der Ort habe nichts damit zu tun. Sie kommen als etwas Äußeres daher und gehören deshalb nicht zur Friedrichshainer Geschichte. Der Eindruck trügt. Friedrichshain ist Teilnehmer dieser historischen Konfliktlage eines neuen globalisierten Klassenkampfes zwischen der westeuropäischen Zivilisation und einer anderen Welt, die schon an die ost- und südeuropäische Peripherie heranreicht. Ihre Zentren liegen weit weg in den neokolonial ausgebeuteten, oft ihrer Staatlichkeit beraubten, zerfallenden Gesellschaften Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, in Bombay, Bangui, Peschawar, Bengasi und in den Favelas von Rio de Janeiro. Der Gegensatz zwischen der globalen Armut und dem lokalen Reichtum nördlich und südlich der Karl-Marx-Allee findet sich auch in der Geschichte des kleinen Friedrichshains wieder. Eine Heimatgeschichte kann daher nicht als eine reine Lokalgeschichte nur mit ein paar netten Worten für die zugewanderten Türken und Vietnamesen geschrieben werden.

Schaut man in die Jahrhunderte zurück, so erkennt man in Friedrichshain die Wurzeln des finalen globalen Konflikts. Als die Deutschen im 13. Jahrhundert diesen Landstrich eroberten, „assimilierten“ sie die wenigen Slawen in Stralow, verhöhnten sie aber noch zwei Jahrhunderte später mit den „Wendenfratzen“ in der Stralower Dorfkirche. Im Mittelalter wurden am Rabenstein, dem heutigen Strausberger Platz, mit religiöser Begründung „Hexen“ und 1510 Juden verbrannt. 1540 räderte man dort Hans Kohlhase, weil er den feudalen Rechtsstaat mit dem Schwert bekämpfte.

Im 18. Jahrhundert wurden vor dem Frankfurter Tor „Zigeuner“ gejagt und anschließend zu langer Festungshaft in Spandau verurteilt oder aus Preußen ausgewiesen. Anderen erging es „besser“. Flüchtlinge aus Böhmen durften sich 1770 auf dem meilenweit schlechtesten Sandboden bei Boxhagen ansiedeln. Bittere Armut und das rassistische Sozialmobbing durch die Lichtenberger Bauern und die Berliner Bürger veranlassten sie schon nach wenigen Jahren, neue Fluchtpläne zu schmieden. Ganz anders lebten hier die privilegierten Hugenotten, die sich nach 1750 entlang der heutigen Karl-Marx-Allee in „Klein-Frankfurt“ und in Friedrichsberg niederließen und sich mit ihrem König Friedrich II. Briefe in Französisch schrieben. Ausländer war eben nicht gleich Ausländer, denn schon früher teilten sich die Einwanderer in willkommene Green-Card-Ankömmlinge und Asylbewerber, die nach Recht und Gesetz behandelt, also diskriminiert wurden. Sozialhistorische Gemeinsamkeiten verbinden auf der ganzen Welt einerseits die Ärmeren und andererseits die Eliten. Nicht der Ort der Herkunft ist heute in Friedrichshain entscheidend, sondern das Karriereformat, die oft westlich-elitär-kleinbürgerliche Sozialisation und das eigene Bankkonto oder das der Eltern. Das ist kein pauschales Urteil über alle Westdeutschen und Westeuropäer, die inzwischen in Friedrichshain wohnen. Hier ist ein dynamischer Prozess zu beobachten, der durch die Einwanderung einer wirtschaftlich übermächtigen und kulturell oftmals rücksichtslosen westdeutsch-westeuropäischen Mittelschicht charakterisiert wird, deren Verweildauer in Friedrichshain meist nur wenige Jahre beträgt. Merkwürdig oder eher heuchlerisch ist zudem, wenn diejenigen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine soziologische Verdrängung der ärmeren einheimischen Ostberliner vollendeten, nach wenigen Jahren die von einer zweiten und dritten Welle finanziell noch stärkerer deutscher und westeuropäischer Zuwandererschichten hervorgerufene „Verschlechterung“ der eigenen Lebensbedingungen beklagen. Nur vor diesem Hintergrund ist das alljährliche Spektakel der Gemüseschlacht auf der Oberbaumbrücke und der Mediaspree-Volksentscheid im Jahr 2008 um einen „Platz an der Sonne“ des Spreeufers zu verstehen. Während das Kreuzbergmuseum darin das Erhalten von „Freiräumen“ sieht, handelt es sich tatsächlich um lobbyistische und kommerzielle Revierkämpfe von Zugezogenen und Immobiliengruppen mit hohem touristischen Schauwert.

Das Berliner Missionshaus der „Berliner Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden“
Das Berliner Missionshaus der „Berliner Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Missionen unter den Heiden“ in der Friedenstraße 2 Ecke Georgenkirchstraße 69-70 um 1930. Erbaut 1873. Von hier aus erfolgte unter Hermann Theodor Wangemann die Missionierung Südafrikas und der Kolonie Deutsch-Ostafrika.

Palmkernölfabrik Rengert & Co. in Stralau, 1896
Palmkernölfabrik Rengert & Co. in Stralau, 1896. Hier wurden Palmkerne aus Kamerun verarbeitet. Das Speichergebäude rechts steht noch heute.

Aber die Verbindung Friedrichshains mit anderen Kulturen ist nicht nur eine Frage der Zuwanderung. Deutschland besaß zwar weniger Kolonien als England oder Holland, das hinderte aber die evangelische Kirche des Kaiserreichs im 19. Jahrhundert nicht daran, eine intensive Missionierungstätigkeit zur geistigen Unterwerfung Afrikas zu entfalten. Zu diesem Zweck wurde 1873 das Missionshaus an der Friedenstraße erbaut, von wo aus die ideologische Expansion in die Gesellschaften Süd- und Ostafrikas betrieben wurde. Fast zwei Jahrzehnte, zunächst als Untersuchungsgegenstand deutscher Ethnologen, lebte nach 1900 der afrikanische Häuptlingssohn Quane a (Martin) Dibobe an der Warschauer Straße und fuhr als Hochbahnfahrer die U-Bahnzüge auf der Skalitzer Straße bis zum Potsdamer Platz (mont klamott, 5. Jg. Nr. 48, Der Friedrichshainer Quane a [Martin] Dibobe). Er stammte aus Kamerun. Von dort kamen über Hamburg die Palmkerne, die von 1881 bis 1899 in der Fabrik von Rengert & Co. in Stralau zu Öl und Schwefelkohlenstoff verarbeitet wurden. Welchen Preis hat Kamerun für seine Palmkerne erhalten, die in Friedrichshain Arbeitsplätze und Wohlstand sicherten? Einen gerechten? Im Jahr 1999 wurde von der African World Reparations and Repatriations Truth Commission an Europa die Entschädigungsrechnung für 400 Jahre Sklaverei und Kolonialismus präsentiert: 777 Billionen Dollar. In diese unvorstellbaren Schuldzahlen ist das Verbrechen an Millionen Afrikanern, allein 50 Millionen wurden durch die Sklaverei getötet, abstrakt vereinigt. Erstmals beziffern sie - real oder unreal - die Entwicklungshilfe, die Afrika auch Friedrichshain gegeben hat!

Der Teufelskreis billiger afrikanischer Rosen, die in den Blumenläden der Frankfurter Allee verkauft werden oder der günstigen T-Shirts die im Ring-Center angeboten und aus inzwischen eingestürzten C & A-Nähfabriken in Bangladesh mit Hungerlöhnen stammen, heißt Kapitalismus und ihm geht es gut, weil alle daran verdienen. 1134 Tote, 322 Vermisste lautete die Bilanz der 2013 eingefallenen Fabrik von Rana Plaza, die in Friedrichshain vornehmlich als Shopping-Schnäppchen und Profit wahrgenommen wurde. Aber weder der einzelne Kunde noch der einzelne Kapitalist können diesen Zustand ändern, wie es Faire-Trade-Seelsorger uns einzureden versuchen. Warum wird denn nicht die ganze Rechnung auf den Tisch gelegt?

Berechnet auf seine heutigen 122.000 Einwohner müsste Friedrichshain 87 Milliarden Dollar Entschädigungskosten an Afrika zurückzahlen. Zweierlei zeigt diese Kolonialismusrechnung: 1. Sie wird vom rassistischen Europa niemals beglichen werden und 2. Alle noch so mildtätigen Welthungerhilfe-, Brot für die Welt-, fairen Handelsunternehmungen und hiesigen Einwanderungszahlen sind eine Farce zur Beruhigung naiver Gemüter gegenüber der tatsächlichen historischen Schuld. Sie können nur auf lächerlich geringfügige und daher schäbige Weise etwas vortäuschen, was der Westen niemals bereit ist zu geben, einen gerechten Ausgleich für seinen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg auf Kosten anderer Kontinente. So war es im „kleineren Maßstab“ auch mit den Zwangsarbeitern. Die „Entschädigung“ der NS-Zwangsarbeiter bis 2007 konnte und wollte das Unrecht und das Leid nicht sühnen und war ein überaus günstiges moralisches Entschuldungsgeschäft der deutschen Industrie, der Kirchen und der Landwirtschaft, die alle an der NS-Zwangsarbeit verdient hatten. Den 1,5 Millionen überlebenden Opfern der NS-Zwangsarbeit wurden lediglich 4,37 Milliarden Euro ausgezahlt. Nach Berechnungen von Thomas Kuczynski hat der Entschädigungsanspruch von 14-15 Millionen Zwangsarbeitern bei umgerechnet 92 Milliarden Euro gelegen. An die Opfer jener deutschen Lokalgeschichte wird vom Kreuzbergmuseum und mit Stolpersteinen erinnert. Recherchen des Friedrichshainer Geschichtsvereins werden jedoch behindert, wenn nach den örtlichen Profiteuren der Zwangsarbeit geforscht wird. Kein Gedenktag und kein Gedenkstein erinnern an die mehr als Zehntausend Zwangsarbeiter, die hier lebten. Viele von ihnen starben in Friedrichshain.

Die Deutschen sollen Opfer sein

Eine Gedenktafel für Bombenopfer des Zweiten Weltkrieges, die am 26. Februar 2014 durch die Grüne-Bezirksstadträtin Jana Bohrkamp enthüllt wurde, gedenkt nicht explizit der Zwangsarbeiter, die am 26. Februar 1945, am selben Tage am selben Ort unter den selben Bomben im U-Bahnhof Memeler Straße starben wie die Deutschen. Dass KZ-Häftlinge die vermutlich 200 Bombentoten bargen und beisetzten, wird ebenfalls nicht erwähnt. Eine Wand mit noch vorhandenen Einschusslöchern von standrechtlichen Erschießungen italienischer Zwangsarbeiter und deutscher Deserteure und „Plünderer“ in der Hausburgschule wird nicht zum Gedenk- und Erinnerungsort. Zwar ehrte 2002 das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg die Zwangsarbeiter in einer Ausstellung, Dokumentation und Publikation zur Zwangsarbeit in Friedrichshain 1939-1945, vom damaligen Heimatmuseum Friedrichshain erarbeitet, und mit 50 zeitweiligen Aufstellern im Stadtgebiet sowie mit einer Straßenumbenennung nach der Daimler-Benz-Zwangsarbeiterin Edith Kiss am 13. Februar 2014, dort ebenfalls durch Jana Bohrkamp. Aber wo ist der Profit geblieben, den sie in Deutschland und in Friedrichshain erarbeiteten?

Andererseits wird am ehemaligen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain durch einen Text von Dietlinde Peters vom Kreuzbergmuseum und in der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ von Ralph-Jürgen Lischke der fanatische deutsche Durchhaltewille in den letzten Kriegstagen 1945 verharmlost. Nach ihren Beschreibungen setzte sich die Bunkerbesatzung aus Frauen, „Kindersoldaten“ und Kriegsgefangenen zusammen, die zugleich Opfer gewesen seien. Die historische Wahrheit sieht anders aus: Seit dem 23. April 1945 befanden sich kaum noch Zivilisten (nur Verwundete) in dieser Flakfestung, sondern zu allem entschlossene Endsieg-Krieger der Wehrmacht, die nun auf Bodenziele schossen und dabei keinen Unterschied zwischen deutschen Zivilisten und Rotarmisten machten. Entgegen dem Kapitulationsbefehl der Wehrmacht vom 2. Mai führten die Flakbesatzung Friedrichshain und andere faschistische Verbände in äußerst verlustreichen Kämpfen den Krieg einfach weiter. Jan Delay hat da ein besseres historisches Gespür, wenn er die Verharmlosung des Faschismus dort beginnen lässt, wo „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ gesungen wird, eben bei einem Wehrmachtssoldatenlied. Der Opfer-Bunkerkult entlarvt sich als nationalistische Nostalgie einer lupenreinen deutschen Volksgemeinschaft, die anscheinend mit dem Faschismus in der Vergangenheit nie etwas zu tun hatte. Bezeichnend ist der deutsche Opferdrang, wenn gleichzeitig mit keinem Wort der sowjetischen Opfer bei der Befreiung Friedrichshains im April 1945 gedacht wird.

Schon in seiner Vertriebenen-Ausstellung „Jedem nach seiner Fasson“ stellte das Kreuzbergmuseum 2005 die deutschen Berlin-Einwanderer um 1900 und die umgesiedelten („vertriebenen“) Ostpreußen und Schlesier von 1945 unterschiedslos auf eine Stufe mit den eingewanderten Böhmen im 18. Jahrhundert, den Türken der 1960er Jahre und mit den wirklichen Flüchtlingen unserer Zeit, den Afrikanern, Syrern, Bosniern, Afghanen, Irakern, Palästinensern und Vietnamesen.

SPD-Plakat am Petersburger Platz
Ein zynisches SPD-Plakat am Petersburger Platz. „Hartz 4-Partei“. April 2014.

Schießbefehl von Gustav Noske
Der berüchtigte Schießbefehl von Gustav Noske. Vossische Zeitung 10.3.1919. Ein erwähnter Massenmord der Spartakisten, der den Schiesserlass begründete, hat nie stattgefunden und erwies sich nach wenigen Tagen als Falschmeldung. Erschossen, erschlagen, erstochen wurde von den konterrevolutionären Truppen im Auftrag der SPD vor allem nach den Kämpfen.

Die Ursachen der deutschen Umsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg werden im grün-regierten Kreuzberg verschleiert. Im Dezember 2013 hat auch die SPD erstmals einem Vertriebenen-Gedenktag im Koalitionsvertrag zur Regierungsbildung mit der CDU zugestimmt. In der keinesfalls neutralen, sondern parteiergreifenden Darstellung des Kreuzbergmuseums zu den schlesischen und ostpreußischen Flüchtlingen und Umsiedlern 1945 wird die revanchistische Formulierung „Vertriebene“ kritiklos übernommen. Das deutsche Leid, so ist auch der Bunker-Text von Dietlinde Peters zu verstehen, soll allgemein dem Leid durch Kriege und damit verbundenem Unrecht gleichgesetzt werden. Dies ist menschlich inakzeptabel, denn Mörder und Ermordeter passen nicht in einen Sarg. Es ist jene revisionistische Position, der auch Erika Steinbach (CDU) zustimmen kann. Die Umsiedlung der Deutschen nach dem II. Weltkrieg ist durch ihren verbrecherischen Angriffskrieg selbst verursacht worden. Erzwungene Migration z.B. aus Afrika ist dagegen kein freier Entschluss der Afrikaner, sondern eine Folge auch der neokolonialen deutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik.

Die bezirksverordnete Friedrichshainer Geschichte der SPD und Grünen fügt sich ein in eine rechte deutsche Geschichtsideologie, nach der Kriege wieder führbar sind. Es verwundert daher nicht, wenn die SPD den Kriegsbefürworter von 1914 Friedrich Ebert in Friedrichshain 2013 mit einer Gedenktafel ehrt, weil sie selbst für ihre heutigen Kriege im Kosovo, vor Somalia und in Afghanistan eine historische Legitimation benötigt.

Die Akteure der Heimatgeschichte

Zum Forum Erinnerungslandschaft Friedrichshain gehört die Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft, benannt nach einer rechten Sozialdemokratin, die einer Bankiersfamilie aus Baden entstammte und 1933 vor den Nazis emigrieren musste. Hedwig Wachenheim befürwortete 1914 die Teilnahme am Ersten Weltkrieg und die kaiserliche Burgfriedenspolitik. Die Burgfriedenspolitik war das völkische Bekenntnis zum deutschen Nationalismus, dem sich die Sozialdemokratie bis in die Gegenwart verbunden fühlt. Als ihr Freund, der Haupteinpeitscher der sozialdemokratischen Kriegskreditbefürwortung Ludwig Frank nach seiner Kriegsfreiwilligenmeldung an der Front fiel, meldete sie sich demonstrativ zur vaterländischen Arbeit im Armenamt Mannheim. „Die Arbeit bestand in Ermittlungen über die Lage der Armen: Wir mußten herausfinden, ob sie das Existenzminimum hatten.“ (Wachenheim) Sie übte vor einhundert Jahren eine Tätigkeit aus, die heute den in Friedrichshain allseits beliebten Mitarbeitern der Hartz 4-Jobagentur obliegt. Die autoritäre Wachenheim, die als Kandidatin bei der Arbeiterratswahl 1919 von den Kolleginnen der eigenen Arbeitsstelle wegen ihrer Unteroffiziersmethoden öffentlich abgelehnt und deshalb nicht gewählt wurde, wirkte von Schöneberg und Charlottenburg aus an der Spaltung der Berliner Arbeiterschaft mit, wobei sie den radikalen Berliner Osten wohlweislich mied. Vor diesem Hintergrund kann es nur als politisch-historische Provokation erscheinen, in genau diesem östlichen Stadtteil, in dem der sozialdemokratische Bluthund Gustav Noske im März 1919 hunderte Arbeiter, Frauen und sogar Kinder töten ließ, fast einhundert Jahre später einen Verein zu installieren, der nach einer Anbeterin dieses Massenmörders benannt ist. Hedwig Wachenheim, die nach eigenem Zeugnis eine extrem rechte Sozialdemokratin war und „weiter rechts stand als die Masse der Berliner Parteigenossen“ (Wachenheim), was also untypisch war für die damalige Berliner Sozialdemokratie, wie selbst die Wachenheim-Gesellschaft eingestehen muss, sagte über Noske, er „war ganz erfüllt von der Aufgabe, die Kommunisten militärisch niederzuschlagen - ... Noske war im persönlichen Umgang ein angenehmer, liebenswürdiger, bescheidener Mensch ...“ Waren die ermordeten dreijährigen, dreizehnjährigen, fünfzehnjährigen, sechszehnjährigen Kinder Kommunisten, die es „militärisch niederzuschlagen“ galt? In Friedrichshain und Umgebung hat der „liebenswürdige Mensch“ mit seinem überlieferten schriftlichen Schießbefehl vom 9. März 1919 innerhalb einer Woche bis zum 16. März eine Blutspur von 1500 Ermordeten hinterlassen. Unter diesen Ermordeten waren wenige Kommunisten, größtenteils Parteilose und Unbeteiligte, aber auch linke Sozialdemokraten, USPD-Mitglieder und Anarchosyndikalisten. Nach diesem Exzess hatte die KPD allerdings einen stetig steigenden Mitgliederzuwachs. Es war also ganz anders, als es Wachenheim suggerierte. Eine „der großen politischen Gestalten der Weimarer Republik“ war nach Wachenheim auch der rechte Sozialdemokrat Otto Braun. Am 9. Januar 1919 regte er für gefangene Spartakisten die „Beschäftigung in Moorkolonien“ im Emsland an, also die Einrichtung von Konzentrationslagern. Dazu kam es nicht, weil ihm Noske mit seinen Erschießungen zuvor kam. Brauns Idee verwirklichten die Faschisten 14 Jahre später mit dem KZ Börgermoor. Nach Otto Braun wurde 1995 in Friedrichshain eine Straße benannt, die zuvor dem KZ-Häftling und einstigen Spartakisten Hans Beimler gewidmet war.

Der Name Hedwig Wachenheim steht bei den heutigen Verantwortlichen der Friedrichshainer SPD und der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft nicht allein für einen unsensiblen Umgang mit der lokalen Geschichte, denn sie bauen offensichtlich auf das Vergessen anstatt auf das Erinnern. Ihre in diese Gegend implantierte nationalistische Geschichtsideologie, die sich auch in anderen historischen Inhalten (Friedrich Ebert, Paul Singer, Friedhof der Märzgefallenen, Jugendwiderstand) widerspiegelt, trägt missionarische Züge. Sie können den roten Fleck in der Geschichte Friedrichshains übertünchen, los werden sie diese Erinnerung jedoch nicht. Deshalb musste Dirk Moldt in der „Kleinen Friedrichshain Geschichte“ die erwähnten Tatsachen des Massakers vom März 1919 bestätigen.

Der schleichende Rechtstrend in der Friedrichshainer Erinnerungslandschaft neben dem Vertriebenen-Hype, der für dieses Stadtgebiet ahistorischen Ehrung rechter Sozialdemokraten, dem Verschweigen des fanatischen faschistischen Endkampfes 1945 und der antikommunistischen Gewalttaten am 17. Juni 1953 wird auch bei den Kooperationspartnern des „Forums“ und seiner Partei-Auftraggeber sichtbar. Die Bezirksversammlung Friedrichshain-Kreuzberg erörtert zur Zeit eine von der CDU vorgeschlagene Zusammenarbeit in der Geschichtsarbeit mit der Vereinigung 17. Juni 1953, die in den 1970er Jahren vom Westberliner Senat als „rechtsradikal und nationalistisch“ eingestuft wurde.

Grabstein Gustav von Lenski auf dem Friedhof der Märzgefallenen
Grabstein Gustav von Lenski auf dem Friedhof der Märzgefallenen. Er bekannte sich zum Kommunismus. 18.3.2010.

Diese politische Annäherung an rechte Geschichtstraditionen wird durch Grüne und SPD durch das Herausstellen positiver demokratischer Traditionen begleitet. Dazu wurde schon vor einigen Jahren der Friedhof der Märzgefallenen auserkoren. Auch hier ist Vereinnahmung angesagt. Den Toten wird noch nachträglich ein SPD-Parteibuch ins Grab gelegt. Der sozialdemokratische Paul-Singer-Verein als Teil des Forums Erinnerungslandschaft Friedrichshain betrachtet den Friedhof der Märzgefallenen faktisch als sein Vereinsmobiliar, hat ihn umzäunt, schließt ihn ab, was einhundert Jahre überflüssig war, und pachtet die Märzrevolution 1848 für die aktuelle Politik der Staatsparteien. Mit einer Ausstellung wird versucht, sich als Bewahrer revolutionärer Traditionen auszugeben. Die Radikalität der Märzrevolutionäre, die sich zum Teil zum Kommunismus bekannten, für Arbeit und für kostenfreie Bildung für alle, für ein Volksheer anstelle einer Söldnerarmee kämpften, verschwindet hinter einer deutschen Demokratiefassade zur Rechtfertigung der bestehenden Parteienherrschaft. Als ob die überwiegend proletarischen Barrikadenkämpfer für dieselben Ziele kämpften wie die bürgerliche Nationalversammlung in Frankfurt am Main, die die Revolution verriet.

Auch Paul Singer war ein höchst autoritärer Sozialdemokrat. Als ihn der Anarchist Erich Mühsam in einer öffentlichen Volksversammlung am 7. Mai 1903 wegen der „parlamentarischen Taktik“ der Sozialdemokratie kritisierte und es als größten Fehler bezeichnete, „dass sie sich auf den rechtlichen Boden [des Kaiserreichs] gestellt und die augenblicklich bekehrenden Gesetze und die Moral dadurch als richtig anerkannt habe“, konterte Singer demagogisch, Mühsam sei ein „Revolutionär“. Er denunzierte ihn damit bei der kaiserlichen Polizei. Tatsächlich wurde Mühsam erst seit jenen Tagen von der Polizei überwacht und einige Monate später in die berüchtigte „Anarchistenliste“ aufgenommen, die seine weitere politische Verfolgung begründete. Der abwertende Gebrauch des Wortes „Revolutionär“ bezeichnete zudem sehr eindeutig, dass Paul Singer, jedenfalls im Jahr 1903, nicht in der Tradition einer Revolution stand, auch nicht der Märzrevolution, für die sich der Paul-Singer-Verein jetzt als Gralshüter aufspielt. Erich Mühsam, der im Stralauer Viertel des Berliner Ostens in dieser Zeit zahlreiche Diskussionen in anarchistischen Arbeiterversammlungen führte, bekannte sich damals im Gegensatz zu Singer zu den vier berühmten (Raphael) Friedebergschen Idealen: Religionslosigkeit, Gesetzlosigkeit, Vaterlandslosigkeit und Antimilitarismus.

Ausstellungstafel in der Galiläakirche
Das Engagement zweier Pfarrer dient als Hintergrund einer Gleichsetzung von Nazi-Terror und DDR. Tafel: Die Galiläakirche. Der Ausstellungsort. 2013.

Ein weiterer Teilnehmer des Forums, der Verein Kulturraum Zwinglikirche, schweigt wie die anderen kirchlichen Teilnehmer im Forum zu den nationalistischen Zügen der evangelischen Kirche in Friedrichshain, die seit dem Pfarrer Adolf Stoecker im 19. und 20. Jahrhundert stark monarchistisch und revanchistisch geprägt war. Von den „Deutschen Christen“ wurde auch in Friedrichshain unter dem Dach der Kirche der Faschismus ideologisch vorbereitet und unterstützt. Die frühere Bezirksstadträtin und jetzige Senats-Staatsekretärin Sigrid Klebba (SPD) wünschte sich in der Zwinglikirche ein Kulturzentrum. Von diesem können dann die etwa 80 Prozent Friedrichshainer „Heiden“ mittels der evangelischen Heimatgeschichte bekehrt werden. Hexenwahn, Kaisertreue, Kriegsbejahung und nazideutsche Christen, die sich in Friedrichshain vor 1945 austobten, werden in diesem Geschichtsbild leider übersehen. So soll dem atheistischen Stadtviertel wie im 19. Jahrhundert aus der Kirche heraus seine Geschichte beigebracht werden.

Dazu gehört auch das in der Galiläakirche residierende „Jugendwiderstandsmuseum“, ebenfalls ein Teilnehmer des Forums Erinnerungslandschaft. Es widmet sich vor allem dem „Widerstand gegen zwei Diktaturen“. Wo aber bleiben der antikapitalistische Widerstand der Arbeiterjugend vor 1933, der antikirchliche Jugendkampf gegen den § 218 in der Weimarer Republik in Friedrichshain, die antisoziale und indoktrinierende Bildungssituation der Jugend vor 1933, der atheistische Befreiungskampf vom kirchlichen Diktat mittels der Jugendweihe seit 1848, der Jugendwiderstand gegen den sozialdemokratischen Panzerkreuzerbau 1928 und das erneute Entstehen einer Bildungsprivilegierung beispielsweise durch Privat- und evangelische Schulen im 21. Jahrhundert? Es bleiben Zweifel, ob das antikommunistische Jugendwiderstandsmuseum zu einer objektiven historischen Darstellung überhaupt in der Lage ist, setzt es doch in seiner Ausstellung (Tafel: Die Galiläakirche. Der Ausstellungsort) die DDR mit der faschistischen Tyrannei gleich.

 

In der „Kleinen Friedrichshaingeschichte“ wird an einer Stelle Bertolt Brecht mit seinem warnenden „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ zitiert. Zu Recht.


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